Konzept

Konzept 

Das vergleichende Verfassungsrecht spielt in der universitären Ausbildung eine untergeordnete Rolle und wird in seiner Bedeutung, gerade in einem zusammenwachsenden Europa unterschätzt. Zwar existiert auf der Ebene des Europarats mit der Venedig- Kommission (Europäische Kommission für Demokratie durch Recht) eine Einrichtung, die osteuropäische Staaten beim Verfassungsrecht berät und insoweit auch vergleichend tätig ist. Jedoch spielt die Tätigkeit dieser Kommission in der Ausbildung kaum eine Rolle.

Dabei ist der Verfassungsrechtsvergleich von besonderer Bedeutung in einem Rechtsraum wie der Europäischen Union. Dies wird zum einen an der vor den Verfassungsgerichten der Mitgliedstaaten geführten Auseinandersetzung um die Vereinbarkeit des Vertrags von Lissabon mit den jeweiligen nationalen Verfassungen deutlich. Hier offenbarte sich auch für den juristischen Laien eine unterschiedliche Sichtweise der nationalen Verfassungsgerichte auf den Vertragstext. Zum anderen hat der Vertrag von Lissabon zu einer Stärkung der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten (vereinfachte Vertragsänderung, Brückenklausel zur Änderung der Abstimmungsmodalitäten im Rat oder des anzuwendenden Gesetzgebungsverfahrens, Recht auf Ablehnung bestimmter Initiativen, Notbremsemechanismus etc.) geführt. Eine Kenntnis der jeweiligen nationalen Anforderungen erleichtert das Verständnis des gesamten Normgefüges. Diese Kenntnis der nationalen Abläufe ist auch für das Verständnis der neuen Instrumente der Subsidiaritätskontrolle von Bedeutung. Hier sei nur auf die in Art. 6 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit geregelte Subsidiaritätsrüge verwiesen.

Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind innerhalb der Gemeinschaft souverän, aber gleichzeitig auch gebunden. Trotz des sich aufgrund des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts ergebenden Bedeutungsverlusts der nationalen Verfassungen und einer „Europäisierung“ des Verfassungsrechts müssen die Verfassungsgerichte immer wieder über Probleme entscheiden, die sich aus der europäischen Integration ergeben. Hierbei spielt das Selbstverständnis der Verfassungsgerichte als Hüter der nationalen Grundwerte und Ideen der Verfassungen eine große Rolle. Um diese unterschiedlichen Sichtweisen zu verstehen, ist eine Befassung mit dem jeweiligen nationalen Verfassungsrecht von großer Wichtigkeit. Das erklärt sich auch aus dem Charakter des Verfassungsrechts. Es handelt sich bei diesem nicht um einen schlichten Normbestand, sondern die Normen spiegeln politische, historische und gesellschaftliche Einflüsse wider. Damit ist es für die Befassung mit dem jeweiligen nationalen Verfassungsrecht unerlässlich, auch auf diese Einflüsse einzugehen.

Der Vergleich der Verfassungsordnungen im Rahmen der Sommerschule verfolgt verschiedene Ziele. Zum einen dient der Verfassungsvergleich neuen Erkenntnissen über das eigene Recht. Nur der berühmte „Blick über den Tellerrand“ ermöglicht ein Erkennen der Relativität des eigenen Rechts und der Gewinnung von Verständnis für den häufig nicht vorhandenen, aber gern als grundsätzlichen angenommenen Charakter einer eigenen, nationalen Rechtsregelung. Dies führt zur Erkenntnis, dass die Lösungen des eigenen Rechts nicht die einzig möglichen sind. Der Einblick in verschiedene rechtliche Formen und Gestaltungsmöglichkeiten zeigt dann verschiedene Ansätze auf, bringt aber auch die Erkenntnis, dass die Bandbreite zur Lösung bestimmter Sachprobleme begrenzt sein kann.

Zum anderen soll dargestellt werden, inwieweit ein Kern nationaler Verfassungsprinzipien existiert, der den verschiedenen nationalen Verfassungen gemeinsam ist, gleichsam ein gemeineuropäisches Verfassungsrecht. Damit einher geht die Darstellung der Rechtsvergleichung auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfe für die nationalen Verfassungsgerichte. Darzustellen sein wird, ob der Verfassungsvergleichung nicht insbesondere im Rahmen der Grundrechtsinterpretation der Rang einer Interpretationsmethode zukommt oder inwieweit sie innerhalb einer teleologischen Auslegung zu berücksichtigen ist.

Als weiteres Anliegen soll den Teilnehmern ein besseres Verständnis für die Kultur des jeweils anderen vermittelt werden. Verfassungen sind –wie bereits ausgeführt- nicht nur Regelwerke, sondern spiegeln immer auch das Selbstverständnis der Verfasser wider, beruhen auf kulturellen Traditionen und sind gleichzeitig Ausdruck von Hoffnungen. Eine vertiefte Kenntnis der Verfassung innerhalb ihres historischen und kulturellen Kontextes kann deshalb das Verständnis der Menschen füreinander fördern.

Für die juristische Ausbildung liegt das Ziel der Sommerschule in der Förderung eines dynamischen Denkens, wie dies dem Rechtsvergleich generell inhärent ist. Ein in der nationalen Denkkultur verhafteter Student ist nicht in der Lage, die Herausforderungen in einer immer stärker kooperierenden Welt zu meistern. Nicht zuletzt bei einer Tätigkeit z.B. im Auswärtigen Dienst oder bei einer internationalen Organisation ist eine Kenntnis der Gesetzgebungsprozesse oder der jeweiligen Kompetenzen der Staatsorgane hilfreich.

Auch soll dargestellt werden, dass das Ziel des Verfassungsvergleichs nicht eine übernationale Rechtsvereinheitlichung ist - dies würde schon den unterschiedlichen historischen, politischen, kulturellen Voraussetzungen und Traditionen der einzelnen Völker widersprechen. Es soll jedoch gezeigt werden, welche Möglichkeiten die Verfassungsvergleichung bei der Vorbereitung einer neu zu erlassenden nationalen Verfassung, der Weiterentwicklung und Verbesserung des eigenen Verfassungsrechts und bei der Schaffung von gemeinsamen Quasi- Verfassungen bieten kann.

Die Sommerschule fügt sich auf der einen Seite bei allen Hochschulen in den Unterricht des nationalen Verfassungsrechts als auch des Europarechts ein. Auf der anderen Seite ergänzt und erweitert es diesen „normalen“ Unterricht durch die vergleichende Perspektive und bietet somit einen Mehrwert, den ein Unterricht allein an einer nationalen Hochschule so nicht bieten kann.

Hinsichtlich der Lernergebnisse ist festzustellen, dass nur durch die Kenntnis der Grundlagen innerhalb des jeweiligen nationalen Verfassungsrechts eine Erfassung des bereits heute bestehenden Mehrebenensystems möglich ist. Da viele Impulse für die Entwicklung eines europäischen Verfassungsrechts den Mitgliedstaaten entstammen, schafft die Kenntnis der unterschiedlichen Verfassungsordnungen, noch dazu in Bezug zum Europäischen Recht gesetzt, Verständnis für andere, der nationalen Rechtsordnung fremde Regelungsmöglichkeiten und Techniken. Auf diesem Weg entsteht Akzeptanz und es wird ein Beitrag zur Auseinandersetzung mit der nationalen und europäischen Rechtsentwicklung geleistet.